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„Er trinkt, was soll ich tun?“
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„Er trinkt, was soll ich tun?“

Aus dem Dunkel ins Licht – 50 Jahre Al-Anon Familiengruppen in Rosenheim am 14. Oktober

Von den anonymen Alkoholikern hat fast jeder schon gehört, und die meisten wissen auch, dass es dort nicht darum geht, sich gemeinsam heimlich zu betrinken. Weniger bekannt sind die „Al-Anon Familiengruppen für Freunde und Angehörige von Alkoholikern“. Sie arbeiten nach den gleichen Prinzipien wie die Anonymen Alkoholiker und bieten Hilfe für alle, die unter dem Trinken eines anderen Menschen leiden oder gelitten haben. Die Gruppen in Rosenheim feiern heuer das 50-jährige Jubliäum ihres Bestehens.

Die „alten Hasen“ in den Angehörigengruppen kennen es schon: wer zum ersten Mal zu ihnen kommt, hat oft nur eine einzige Frage – die aber umso dringlicher ist: „Wie bringe ich ihn vom Alkohol weg?“ oder „Wie mache ich ihr klar, dass sie zu viel trinkt?“ oder einfach: „Was soll ich nur tun?“

Die Dringlichkeit ist so verständlich wie berechtigt, denn wie jede Sucht ist auch Alkoholismus eine anfangs unmerklich, aber stetig fortschreitende Erkrankung mit langfristig verheerenden Auswirkungen. Auf die Trinkenden selbst, ihre körperliche, emotionale und psychische Gesundheit, aber auch auf die Angehörigen. Viele von ihnen haben jahrelange Anstrengungen hinter sich. Haben an die Vernunft appelliert, Flaschen gezählt oder in die Spüle geleert, Alkoholverstecke gesucht, mit Trennung gedroht oder die Flucht ergriffen, um doch wieder zurückzukommen. Haben beim Begrüßen an der Tür unauffällig nach der Fahne geschnüffelt, den Partner beim Arbeitgeber krankgemeldet, den Vater von der Kneipe abgeholt, die Ehefrau zum Arztbesuch gedrängt. Die meisten haben eine zermürbende Achterbahnfahrt der Gefühle erlebt: Sorge um den Betroffenen, Wut und Groll, Verzweiflung, Angst um die Zukunft und um den Trinkenden, manchmal auch vor dem Trinkenden und dessen Kontrollverlust, der nicht nur zum Trinken bis zur Besinnungslosigkeit, sondern auch zu Gewaltausbrüchen oder Suizidversuchen führen kann.
.Die Antwort, die die Partnerinnen und Partner, die Eltern oder Kinder von Trinkenden bei den Treffen in den Angehörigengruppen erhalten, ist deshalb für viele auf den ersten Blick ernüchternd: Sie können nichts tun. Jedenfalls nicht für den anderen. Wohl aber, und darum geht es, für sich selbst.

Vielen Angehörigen tut es gut, in den „Meetings“ genannten Treffen über die Situation zuhause zu sprechen. Sie merken, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen und Gefühlen, und der Austausch mit anderen hilft dabei, zu verstehen, wofür man verantwortlich ist und wofür nicht – die Verwirrung darüber ist in Beziehungen zu Alkoholikern und in suchtkranken Familien oft groß. So berichten viele Angehörige, wie sie im Laufe der Zeit das eigene Leben, die eigenen Bedürfnisse und Interessen immer mehr aus den Augen verloren haben, ihr Fühlen und Denken zunehmend um das (Trink-)Verhal-ten des Angehörigen kreiste, und wie viel Scham für sie damit verbunden war, einen Partner zu haben, der die Kontrolle verliert, oder ein Elternteil, das regelmäßig lallt und nach Alkohol riecht.

Kommen Neue zu einem „Meeting“ genannten Treffen geht es oft zunächst darum, zu verstehen, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, gegen die nur der Betroffene selbst etwas tun kann. Und darum, zu verstehen, warum und wann Nichthilfe die bessere Hilfe ist, um dem anderen das Weitertrinken nicht noch leichter zu machen, zum Beispiel indem es gedeckt wird oder immer mehr Aufgaben übernommen werden. Und immer geht es auch um das Recht, sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern, unabhängig vom Verhalten des anderen. Um das Recht auf ein gutes Leben, auch wenn andere Probleme mit Alkohol haben.

Wie Angehörige diese Probleme erleben, ist unterschiedlich. Manchmal sind sie die ersten, die merken, dass etwas ins Rutschen gekommen ist, manchmal die einzigen. Manche wieder bemerken erst etwas, wenn die Situation eskaliert. Denn in Deutschland, das im internationalen Vergleich ein Hochkonsumland ist, fällt es oft lange nicht auf, wenn jemand in eine Abhängigkeit gerät. „So viel war es gar nicht“, „die anderen trinken doch auch“, „die paar Bier“ – wer hat nicht schon Vergleichbares gehört oder selbst gesagt? Manchmal brauchen auch die Angehörigen viel Zeit, bis sie sich eingestehen können, dass ein geliebter Mensch nicht mit Alkohol umgehen kann, dass er sich durch das Trinken verändert und dass sie selbst machtlos sind. Machtlos, aber nicht hilflos, so formulieren es die „alten Hasen“. Viele gehen auch noch in Meetings, wenn die akuten Familienprobleme längst vorbei sind. Das trifft auch auf eine besonders vernachlässigte Gruppe zu: diejengen, die als Kinder in alkoholbelasteten Familien aufgewachsen sind. Der Satz „Mein Kind hat doch nichts mitbekommen“ fällt auf Elternseite allzu oft, und er stimmt nie. Kinder aus suchtkranken Familien leiden meistens still und versuchen, sich anzupassen, wie unberechenbar und verwirrend die Situation Zuhause auch ist. Oft erleben sie Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und Einsamkeit, haben Schulprobleme, übernehmen zu früh zu viel Verantwortung oder entwickeln eigene Süchte. Auch Jahre später, wenn sie schon lange ausgezogen sind, ringen viele von ihnen mit Selbstwertproblemen, eigenen Süchten, Schwierigkeiten mit Nähe und Beziehungen, Stimmungsschwankungen oder Depressionen und dem Gefühl, sich nur auf sich selbst verlassen zu können.
„In Meetings konnte ich zum ersten Mal wirklich verarbeiten, was damals Zuhause los war“, erzählt eine rund 50-jährige, die seit zwanzig Jahren Al-Anon-Treffen besucht. „Man muss nichts umständlich erklären, denn alle wissen eh, was Zuhause in den Familien los war.“

Al-Anon ging 1951 in den USA aus den Anonymen Alkoholikern hervor und existiert seit 1967 auch in Deutschland. 1973 wurde die erste Gruppe in Rosenheim gegründet. Dass sie 50 Jahre später immer noch besteht, ist nicht nur ein Anlass zum Feiern, sondern auch eine willkommene Gelegenheit, auf die Angehörigengruppen aufmerksam zu machen. „Oft wissen selbst Ärzte und Suchtberater zwar, dass es die AA gibt, aber nicht von Al-Anon“, erzählt eine ältere Teilnehmerin, die selbst seit einigen Jahrzehnten mit einem trockenen Alkoholiker verheiratet ist. Oft gehen beide Partner gleichzeitig zu den Treffen, nur in unterschiedliche Räumen: im einen findet das Treffen der Anonymen Alkoholiker statt, im anderen das Al-Anon-Meeting. In Rosenheim ist das derzeit immer donnerstags möglich (Infos und Meeting-Termine auch auf al-anon.de).

„Aus dem Dunkel ins Licht“ lautet das Motto zur 50-Jahr-Feier. Sie findet am Samstag, 14. Oktober, von 14 bis 17 Uhr im Pfarrsaal der Apostelkirche in Rosenheim statt. Neben Erfahrungsberichten und Informationen zur Entstehung von Al-Anon wird es auch ein für alle offenes Meeting geben. Interessierte haben die Gelegenheit, den Ablauf solcher Treffen kennenzulernen und sich über das „12-Schritte-Programm“ zu informieren, nach dem sowohl die Anonymen Alkoholiker als auch Al-Anon arbeiten. Wer mag, kann auch einen Blick in die Literatur werfen oder Infomaterial mit nach Hause nehmen. Bei einer längeren Pause mit Kaffee, Kuchen, Brötchen und Getränken gibt es Gelegenheit zum persönlichen Austausch und für Fragen. Dabei gilt, was auch bei den regulären Treffen gilt: die Teilnahme ist kostenlos, Spenden sind willkommen, und die Anonymität bleibt immer gewahrt. (gh)

Foto: Herget

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