Akuter Pflegenotstand spitzte sich dramatisch zu und ließ Familie (fast) verzweifeln
Es war zum Verzweifeln: Familie Fütterer aus Rosenheim pflegt seit neun Jahren ihr jüngstes Familienmitglied Sarah. Die inzwischen Neunjährige ist mehrfach schwerstbehindert. Ihre Eltern und ihre große Schwester Jessica (16) haben ihr Leben voll auf Sarahs Bedürfnisse abgestimmt. Um keinen Preis der Welt würden sie sie in ein Heim geben wollen. Doch nun steht ein Umzug an, die Familie kann in eine neue Wohnung in der Finsterwalderstraße ziehen. Um Sarah den Umzugsstress zu ersparen, suchte die Familie nach einer stationären Kurzzeitpflege für ihre Tochter – und wurde vom akuten Pflegenotstand voll erwischt: Keine der Pflegeeinrichtungen in unserer Region und der weiteren Umgebung hatte Platz für Sarah. Überall fehlt Personal, um die pflegende Familie kurzzeitig zu entlasten. Nur ein „Zufall“ rettete die Familie jetzt davor, ihre Sarah zwischen den Umzugskisten versorgen zu müssen. Weil ein Kind mit Pflegeplatz ins Krankenhaus kommt, kann Sarah für diese Zeit seinen Platz einnehmen. „Das ist wie ein Sechser im Lotto“, bestätigt Margit Rychly, Leiterin vom Regionalverbund ambulante Hilfen und Wohnen für Menschen mit Behinderung.
Margit Rychly ist auch zuständig für das Haus Christophorus in Brannenburg, von dem vor wenigen Tagen die erlösende Nachricht kam, dass Sarah in diesem Wohnheim für Menschen mit Behinderung einen Pflegeplatz für die ersten Oktoberwochen bekommt.
Noch im Juni stellte sich die Situation für Familie Fütterer dramatisch dar: Als Diana Fütterer von der GRWS den neuen Mietvertrag in den Händen hielt, machte sie sich sofort auf die Suche nach einem Kurzzeit-Pflegeplatz für ihre Sarah. „Wir wussten zwar noch nicht an welchem Tag genau die neue Wohnung bezugsfertig sein würde, aber ich machte mich gleich daran, einen Platz für Sarah für Oktober zu suchen, weil ich ja weiß, dass man in der Pflege langfristig planen muss“, erinnert sich Sarahs Mutter. Dutzende Pflegeeinrichtungen in der näheren und weiteren Umgebung schrieb sie an – und erhielt von allen eine Absage.
Diana Fütterer wandte sich an das Rosenheimer Sozialamt, an den Bezirk Oberbayern, an Rosenheims Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer. Alle wollten helfen, aber niemand konnte die nötigen Fachkräfte herzaubern.
Auch das Ambulante Kinderhospiz München (AKM) konnte trotz seiner weitreichenden Kontakte nicht weiterhelfen. Das AKM nahm die Neunjährige kurzfristig in sein Hilfsprogramm auf, weil es sich bei der schwierigen Pflegeplatzsuche um einen akuten Notfall für die Familie handelte.
Sarah ist nicht lebensbedrohlich erkrankt, aber durch einen Chromosomendefekt von Geburt an auf intensive Pflege angewiesen. Sie wird künstlich ernährt, hat keinen Tages- und Nachtrhythmus, muss gewickelt und wegen ihres autoaggressiven Verhaltens manchmal auch vor sich selbst geschützt werden. Sarah kann nicht sprechen und nicht schlucken. Ohne Aufsicht kann sie nicht sein. Ihre Familie hat ihr Leben ganz auf Sarahs Bedürfnisse eingestellt. Sie sind füreinander da – das Beatmungsgerät immer in greifbarer Nähe.
Sarah‘s große Schwester Jessica (16) kann sich ein Leben ohne ihre Schwester nicht vorstellen. Umso schwerer traf es sie, als sie den verzweifelten Kampf ihrer Mutter mit erleben musste, für Sarah einen kurzzeitigen Pflegeplatz zu finden. „Da fühlt man sich schon sehr allein gelassen“, gesteht sie.
Ihre Mutter ist eine Kämpferin, sie hat sich in den neun Jahren der Intensivpflege an die Kämpfe für ihre behinderte Tochter gewöhnt. Verhandlungen mit der Krankenkasse, mit Ärzten, Rezepte, Behindertenausweis, das alles ist kein Zuckerschlecken. Viel ist zu organisieren, nicht alles zu erklären. Manchmal dauert es Monate, bis lebenswichtige Dinge genehmigt werden, die Familie lebt eigentlich ständig auf einer Art Pulverfass. „Passieren darf uns nichts“, weiß Diana Fütterer, „sonst wäre die Katastrophe da.“
Eine Auszeit hat sich die Familie bisher nicht genommen. Sogar eine anstehende Operation schiebt Diana Fütterer seit Langem vor sich her: „Ich weiß momentan nicht, wie ich das organisieren soll“, gesteht sie.
Und damit spricht sie ein großes Manko an: Kurzzeitpflegeplätze für schwerstbehinderte Kinder sind momentan absolute Mangelware.
Auf Nachfrage unserer Wochenzeitung bestätigten alle angesprochenen Pflegeeinrichtungen unserer Region, dass dieses Problem nicht neu ist. „Wir haben schon vor Jahren zusammengesessen und der Politik unseren Notstand erklärt“, erinnert sich beispielsweise Geschäftsführer Elmar Kuhn vom Behandlungszentrum Aschau.
Margit Rychly bekräftigt: „Die Kitas wurden jetzt aus dem Boden gestampft und haben den Fachkräftemangel noch einmal forciert. Der Markt ist leergefegt, so schlimm wie momentan war es lange nicht.“
Im Haus Christophorus in Brannenburg stehen deshalb Betten leer, die dringend benötigt würden – es fehlen die Fachkräfte.
Rychly sieht die Politik in Zugzwang: Die Erzieherausbildung „geht am Bedarf vorbei“, so Rychly, „und ambitionierte Quereinsteiger sollten bessere Einstiegsmöglichkeiten finden.“
Auf alle Fälle muss jetzt etwas geschehen, das meinen auch Jessica und ihre Eltern. So kann es nicht weitergehen, dass pflegende Angehörige keine Hilfe im Notfall bekommen können – und Jessica wünscht sich auch für den „Normalfall“ ein wenig mehr Verständnis von ihren Mitmenschen. „Wenn ich mit Sarah spazieren gehe, dann höre ich oft Sätze wie ‚Sowas hätte man früher einfach weggeschlossen!‘ Das tut mir sehr weh, das haben Sarah und ich beide nicht verdient. Vielleicht können die Menschen künftig ein wenig freundlicher sein, wenn sie uns sehen.“ Petra Maier